© Andreas Hofer Bund e.V. 2015
Gastbeitrag von Prof. Dr.Dr. Reinhard Olt
60 Jahre Feuernacht
Auspizien des Südtüroler Freiheitskampf
Ein Reisebus verlässt Innsbruck. Die Insassen begeben sich auf „Exkursion“ nach Verona. „Pro arte et musica“ heißt ihr
Programm, auf das sie Günther Andergassen, Hochschullehrer am Salzburger Mozarteum, mitnimmt. Doch sie sind keine
gewöhnlichen Ausflügler, ihre Fahrt am 10. Juni 1961 dient der Tarnung. Auch Herlinde Molling, die an diesem Tag ihr Sport-
Coupé mit dem Münchner Kennzeichen M-LE 333 gen Süden chauffiert, um in Vilpian, einem Ort zwischen Bozen und Meran, auf
ihren Mann Klaudius zu treffen, der zu besagter Reisegruppe gehört, ist nicht wirklich zum Vergnügen unterwegs. Im Kofferraum
transportiert sie Sprengstoff. Sprengstoff führen auch die „Exkursionsteilnehmer“ in Rucksäcken mit sich. Auf Almhütten,
Waldlichtungen, selbst in einem Gasthof mitten in Bozen trifft man sich mit Landsleuten aus dem südlichen Teil Tirols und
übergibt ihnen die portionierten „Mitbringsel“.
Donarit und Zeitzünder
Am Spätabend des 11. Juni verlässt Luis Steinegger seinen Hof und fasst oberhalb von Tramin das
dort in einer Höhle verwahrte Donarit, welches einer der Exkursionsteilnehmer überbracht hat.
Mit seinem Freund Oswald Kofler präpariert er zwei Strommasten in Altenburg. Sie befestigen
den Sprengstoff, legen die Zündschnur lose um die Stahlträger. Dann wird der Zeitzünder, Marke
Eigenbau, scharf gemacht. Die Uhr der Dorfkirche schlägt zehn Mal, als Steinegger den Zünder
auf eins stellt. Pünktlich um ein Uhr detonieren die Ladungen, die Strommasten krachen in sich
zusammen. Dasselbe in Sinich nahe Meran, wo Sepp Innerhofer von Schenna aus mit dem
Feldstecher beobachtet, wie die von ihm „geladenen“ Masten unter widerhallendem Getöse wie
Streichhölzer umknicken. Auch in Bozen durchbricht um dieselbe Zeit ein lauter Knall die
nächtliche Ruhe. Das donnergleiche Grollen, dem weitere Detonationen folgen, reißt viele aus
dem Schlaf. Zwischen eins und halb vier blitzt und knallt es rund um den Bozner Talkessel,
krachen stählerne Ungetüme zu Boden. (Zeitzeugenberichte aus dem 2011 im Innsbrucker
Tyrolia-Verlag erschienenen Buch „Südtirol 1961, Herz Jesu-Feuernacht …“ von Birgit Mosser-
Schuöcker und Gerhard Jelinek)
Ausnahmezustand, Haft, Folter, Tod
Am Morgen des 12. Juni, des „Herz-Jesu-
Sonntags“, wird das Ausmaß dessen ersichtlich,
was die „Feuernacht“ bewirkte: 37
Hochspannungsmasten, acht Eisenbahnmasten
und zwei zu Kraftwerken führende
Hochdruckwasserleitungen sind in die Luft
geflogen: Eine effektvolle konspirative
Gemeinschaftsaktion des „Befreiungsausschusses
Süd-Tirol“ (BAS) mit dem Ziel der größtmöglichen
Schädigung Italiens unter Schonung von Menschen
und Privateigentum. Die Weltöffentlichkeit soll
auf das Südtirol-Problem aufmerksam gemacht
und auf die als Besatzungsregime empfundene
italienische Staatsmacht Druck ausgeübt werden.
Dem BAS gehören etwa 200 Aktivisten aus beiden
Teilen Tirols an: „Wir fordern für Südtirol das
Selbstbestimmungsrecht! (...) Europa und die
Welt werden unseren Notschrei hören und
erkennen, dass der Freiheitskampf der Südtiroler
ein Kampf (...) gegen die Tyrannei ist.“ Doch ihr Aufruf zum Kampf erfährt erst breitere Unterstützung, als die Bevölkerung die
Reaktion Roms auf die Feuernacht direkt verspürt: es verhängt den Ausnahmezustand über die Provinz, das gesamte IV.
Armeekorps – 24 000 Soldaten - sowie zusätzlich 10 000 Carabinieri – kasernierte Polizeikräfte - werden nach Südtirol verlegt. Bis
Ende Juli werden die meisten Südtiroler BAS-Mitglieder inhaftiert, darunter auch Sepp Kerschbaumer, ihr Kopf. Seine Mitstreiter
Franz Höfler und Anton Gostner erliegen grausamen Folterungen in der Carabinieri-Kaserne von Eppan. Jetzt erst kommt es zu
einer Welle der tätigen Solidarität. Auch von politischer Seite in Österreich.
Was treibt die „Bumser“ an, wie die Attentäter noch heute im Volksmund genannt werden? Sie wollen ein markantes Zeichen
setzen, um die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf das ungebrochene neokolonialistische Gebaren Roms zu lenken. Der
südliche Landesteil Tirols ist Italiens Kriegsbeute, Belohnung dafür, dass es aus dem Dreibund (mit Deutschem Reich und
Österreich-Ungarn) zu Beginn des Ersten Weltkriegs ausschert, sich anfangs als „Neutraler“ geriert, um 1915 auf der Seite der
Entente-Mächte England und Frankreich als Verbündeter in den Krieg eintritt. Vor dem Untergang der österreichisch-ungarischen
Doppelmonarchie war es – wie „Welschtirol“ (Trentino) für fünf Jahrhunderte Teil der „gefürsteten Grafschaft Tirol“ und also
Habsburger-Kronland. Nach dem Friedensdiktat von Saint-Germain-en-Laye (10. September 1919) gliedert das Königreich Italien
am 10. Oktober 1920 das Land bis zum Brenner ein. Mit der Machtübernahme Mussolinis 1922 soll das „Alto Adige“ („Hochetsch“)
entdeutscht und kulturell italianisiert werden. Das römische Verwaltungssystem wird eingeführt, die italienische Sprache zur
alleinigen Amts- und Unterrichtssprache erklärt. Infolge gezielter Ansiedlung von Unternehmen und Beschäftigten aus Altitalien
verdreifacht sich bis 1939 die Zahl ethnischer Italiener in Südtirol. Schließlich verabreden die Diktatoren Mussolini und Hitler,
„Achsenpartner“ im bald darauf entfesselten Krieg, das sogenannte Optionsabkommen: damit zwingen sie die Südtiroler, sich
entweder für „das Reich“ zu entscheiden und die Heimat zu verlassen, oder zu bleiben und in der Italianità aufzugehen.
Die verfälschte Autonomie
Nach dem Zweiten Weltkrieg verwerfen die Alliierten die
Rückgliederung Südtirols an Tirol und das wieder erstandene
Österreich, wie es mehr als 175 000 im Geheimen
gesammelte und in Innsbruck an Kanzler Leopold Figl
übergebene Unterschriften fordern. Zwar gesteht ein
zwischen Außenministern Karl Gruber und dem italienischen
Ministerpräsidenten Alcide de Gasperi im September 1946 zu
Paris geschlossenes Abkommen den Bewohnern der Provinz
Bozen weitgehende sprachliche und kulturelle Rechte sowie
eine gewisse Selbstverwaltung zu. Doch Rom führt diese
Übereinkunft im ersten Autonomiestatut von 1948 dadurch ad
absurdum, dass es seine Gültigkeit für die Region Trentino-
Alto Adige festlegt, worin die beiden Nachbarprovinzen
zusammengeschlossen und die Südtiroler von der Dominanz
der ethnischen Italiener des Trentino majorisiert sind. Dagegen und gegen die auch vom demokratischen Italien quasi in
Kolonialherrschaftsmanier bruchlos fortgesetzte Ansiedlung von Süditalienern - in neuerlichen Wohnbau- und Industrieprojekten -
wenden sie sich in der vom nachmals legendären Landeshauptmann Silvius Magnago initiierten „Los von Trient“-Bewegung. Die
1950er und 1960er Jahre sind daher vom Aufbegehren gegen die römische Politik erfüllt. Vorläufer des BAS ist die „Gruppe
Stieler“; auch sie hält sich strikt an das Gebot „Gewalt lediglich gegen Sachen“.
Gleichwohl kommt es am Tag nach der „Feuernacht“ durch unglückliche Umstände zum ersten Opfer; ein italienischer
Straßenwärter entdeckt nahe (der Provinz- und Sprachgrenze an der Landenge von) Salurn an einem mächtigen Baum einen nicht
detonierten Sprengsatz, mit dem der Baum gefällt und die Straßenverbindung gen Trient sinnfällig-zeichensetzend unterbrochen
werden sollte, der ihn während seines Entfernungsversuchs tötet. Infolge späterer Anschläge sind – auf beiden Seiten – insgesamt
25 Todesopfer zu beklagen. Jüngere Forschungen haben indes gezeigt, dass davon nicht wenige auf das Konto konspirativer
Anschläge unter maßgeblicher Beteiligung italienischer Geheimdienstleute sowie des italienischen Zweigs „Gladio“ der verdeckt
operierenden Nato-Geheimorganisation „Stay behind“ gehen.
150 BAS-Aktivisten wird man habhaft, einige können entkommen und setzen ihre Aktivitäten von Nord- und Osttirol aus fort. Im
Mailänder Sprengstoffprozess 1963 gegen 94 Angeklagte (87 aus Südtirol, 6 aus Österreich, einer aus der Bundesrepublik) werden
zumeist langjährige Haftstrafen ausgesprochen. Ein halbes Jahr später stirbt Sepp Kerschbaumer in einem Veroneser Gefängnis;
15.000 Südtiroler folgen seinem Sarg.
Viel ist seit jener „Feuernacht“ in Südtirol geschehen. Aufgrund zweier Deklarationen der Vereinten Nationen (UN), vor die der
damalige österreichische Außenminister Bruno Kreisky den Südtirol-Konflikt trägt, wird in zähen Verhandlungen zwischen Rom,
Bozen und Wien schließlich eine Lösung in Form eines neuen Autonomiestatuts gefunden, der die seit 1945 im Lande dominante
Südtiroler Volkspartei (SVP) 1969 mit knapper Mehrheit zustimmt. Verbunden mit „Paketmaßnahmen“ und
„Durchführungsbestimmungen“, deren Verwirklichung sich aufgrund römischer Finten immer wieder verzögert, wird der Konflikt
mit der von der Schutzmacht Österreich vor den UN abgegebenen „Streitbeilegungserklärung“ gegenüber Italien erst 1992
völkerrechtlich beigelegt. Heute gehört die Provincia autonoma di Bolzano - Alto Adige Autonome Provinz Bozen-Südtirol zu den
prosperierenden Gebieten Italiens und darüber hinaus, weshalb diejenigen, die mit den obwaltenden Verhältnissen, in denen sie
sich mehr oder weniger komfortabel einrichteten, zufrieden sind und sie, wie allem Anschein nach die heutige Führung der nach
wie vor regierenden Mehrheitspartei SVP – und mit ihr alle Parlamentsparteien des „Vaterlands Österreich“ außer der
oppositionellen FPÖ – quasi als politischen und rechtlichen Endzustand erachten sowie als „Vorbild für die friedliche Beilegung
von Minderheitenkonflikten“ propagieren. Alle anderen Südtiroler deutscher und ladinischer Zunge, die deutschsüdtiroler
Opposition ohnedies, die austro-patriotischen Vereinigungen wie Heimatbund (SHB) und Schützen (SSB), aber auch diejenigen
wenigen in der SVP, die die Autonomie nicht als „Endstadium“, sondern lediglich als Zwischenschritt auf dem völkerrechtlich
möglichen und menschenrechtlich gebotenen Weg zur Selbstbestimmung betrachten, welche 1919 und 1946 verweigert wurde,
setzen sich nach wie vor für die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts ein.
Kein „Ende der Geschichte“
Ist der „Feuernacht" eine politische Bedeutung und zukunftsgestalterische Wirkkraft
eigen? Stets lehnten Magnago und die engere SVP-Führung Anschläge als prinzipiell verwerfliche Taten ab. Ebenso wie
österreichische Politiker aus der Erlebnisgeneration bestritten sie, von deren Vorbereitung gewusst oder mit den Aktivisten zu
tun gehabt oder gar zusammengewirkt zu haben. Das darf jedoch in dieser Pauschalität füglich bezweifelt werden, weil wir
heute wissen, dass und welche Persönlichkeiten in Nordtirol, in anderen österreichischen Bundesländern, auch im benachbarten
Bayern sowie in der damaligen Bonner Politikerriege und selbstredend auch in Südtirol hinter ihnen standen, ihr Tun wenn nicht
ausdrücklich guthießen so doch mit Sympathie – und vereinzelt sogar über das Ideelle hinaus – begleiteten. Später hieß es dann,
die Anschläge seien als „Anstoß für die Änderung der italienischen Südtirolpolitik“ zu sehen, an deren Ende die „Paket-Lösung“
von 1969 und das Zweite Autonomiestatut von 1972 standen. Das sei letztlich jenen zu verdanken (gewesen), die mit dem Einsatz
ihres Lebens wesentlich dazu beitrugen, die Heimat vor Italiens ins Werk gesetztem fait accompli, nämlich einebnende,
entnationaliserende Assimilierung, zu bewahren. Magnago äußert einmal, die Anschläge hätten „einen bedeutenden Beitrag zum
Erzielen einer besseren Autonomie für Südtirol“ geleistet.
Doch Autonomie als Zustand und Wert an und für sich, wie sie Magnagos politische Enkel innerhalb und außerhalb seiner SVP
geradezu verabsolutieren, weil es ihrem wohlgefälligen Mehren selbstbetrügerischen Zufriedenheitsempfindens frommt und das
kompromisslerische Arrangement mit Rom sowie die schleichende Italophilie begünstigt, oder gewissermaßen gar als eine Art
„Ende der Geschichte“ betrachten, wie nicht wenige Angehörige der politischen Klasse Österreichs - all ihren Sonntagsreden von
der „Herzensangelegenheit Südtirol“ zum Trotz - wollten just die Freiheitskämpfer nicht. Weder jene, derer die italienische
Staatsmacht 1961 und in den Jahren danach habhaft wurde, sie als „Terroristen“ verurteilte und manche sogar zu Tode schund;
noch die damals Entwischten und in Abwesenheit menschenrechtswidrig zu lebenslänglicher oder mehrjähriger Haft Verurteilten
und die seitdem ihre Heimat nicht mehr gesehen haben. Und schon gar nicht all jene, die sich ihnen und ihren Zielen auch heute
und in Zukunft weiter verbunden und diesseits wie jenseits des Brenners durchweg ihrem Erbe verpflichtet fühlen.
Selbstbestimmtes „Los von Rom“
Ihr Ziel war und bleibt die Selbstbestimmung, das
ideelle, materielle, politisch-rechtliche „Los von
Rom“. Zu welchem Behufe und in welcher völker-
oder staatsrechtlich geregelten Form, ob als
nurmehr absolut lose mit Italien verbundenes, über
Kulturhoheit, Jurisdiktion und Polizeigewalt
verfügendes autonomes Territorium mit
weitestgehendem Eigenstaatlichkeitscharakter, ob
als von Österreich und Italien gemeinsam
verwaltetes Kondominium mit Eigenrecht, ob als
gänzlich unabhängiger souveräner Kleinstaat, ob als
zehntes Bundesland Österreichs oder ob mit dem
Bundesland Tirol und also Österreich wiedervereint,
ist und bleibt offen. Klar muss allerdings sein, dass
über das südliche Tirol und dessen Zukunft allein
diejenigen zu befinden haben, die weder 1918/19 noch 1945/46 gefragt, sondern vor vollendete Tatsachen gestellt worden sind,
nämlich die Südtiroler deutscher und ladinischer Zunge – und zwar in freier, gleicher und geheimer Ausübung ihres
unverbrüchlichen Rechts auf Selbstbestimmung.
*Prof. Dr. phil. Dr. h.c. Reinhard Olt war 27 Jahre politischer Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (F.A.Z.) und von 1994 bis 2012 deren
Korrespondent in Wien für Österreich, Ungarn, Slowenien, zeitweise auch für die Slowakei. Daneben nahm er Lehraufträge an deutschen,
österreichischen und ungarischen Hochschulen wahr. Seit 1990 ist er Träger des Tiroler Adler-Ordens, seit 2013 des Großen Adler-Ordens. 1993
erhielt er den Medienpreis des Bundes der Vertriebenen (BdV). 2003 zeichnete ihn der österreichische Bundeskanzler mit dem Leopold-Kunschak-
Preis aus, und der österreichische Bundespräsident verlieh ihm den Professoren-Titel. 2004 wurde er mit dem Otto-von-Habsburg-Journalistenpreis
für Minderheitenschutz und kulturelle Vielfalt geehrt und ihm das Goldene Ehrenzeichen der Steiermark verliehen. 2012 promovierte ihn die
Eötvös-Loránt-Universität in Budapest zum Ehrendoktor (Dr. h.c.), verbunden mit der Ernennung zum Professor, und 2013 verlieh ihm der
österreichische Bundespräsident das Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst.
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