© Andreas Hofer Bund e.V. 2015
Gastbeitrag von Prof. Dr.Dr. Reinhard Olt
Wunschbild Euregio Tirol
30 Zentimeter Neuschnee sowie einige Lawinen – und der Verkehr über den Brenner
war für 30 Stunden lahmgelegt, sodass zwischen Innsbruck und Trient (vice versa) so
gut wie nichts mehr ging. „Jeder, egal ob in Nord- oder Südtirol, hat dem anderen
die Schuld gegeben“, sagte Elmar Thaler dazu auf der Landesgedenkfeier für den
Volkshelden Andreas Hofer in Meran. Zurecht fragte der ranghöchste Repräsentant
des nach wie vor uneingeschränkt für die Tiroler Landeseinheit einstehenden
Südtiroler Schützenbundes (SSB), wo denn in dieser winterlichen Notsituation die
angeblichen Segnungen der in Sonntagsreden seit einem Vierteljahrhundert
vielbeschworenen „Europaregion Tirol“ ihren Niederschlag gefunden hätten.
Fehlanzeige – dieses Gebilde existiere lediglich auf dem Papier; es sei bei den
Politikern, die stets davon sprächen, noch nicht angekommen, und beim Volk schon
gar nicht, resümierte Thaler. Das ist ein niederschmetternder Befund, der wohl von
allen Tirolern zwischen Kufstein und Salurn sowie von den Welschtirolern
(Trentinern) zwischen Kronmetz (Mezzocorona) und Borghetto geteilt werden dürfte,
sofern diese überhaupt etwas mit diesem Begriff respektive dessen schlagwortartiger
Verkürzung „Euregio“ anzufangen wissen. Die Idee der „Europaregion“ war am 21.
Mai 1991 im Rahmen einer gemeinsamen Sitzung der Landtage der österreichischen
Bundesländer Tirol und Vorarlberg sowie der beiden italienischen Provinzen Südtirol und Trient geboren worden. Obwohl sich
Vorarlberg nach der zweiten gemeinsamen Sitzung am 2. Juni 1993 daraus zurückzog, begannen die entsandten Delegierten, die
Idee weiterzuspinnen. Dies schlug sich im 1996 gemeinsam vorgestellten Statut über die künftige politische Marschroute sowie
die institutionelle Ausgestaltung einer Europaregion nieder. Insbesondere in Innsbruck und Bozen verband man mit der
Europaregion Tirol die Hoffnung, dass die Kooperation der Landesteile das Gefühl der gemeinsamen Identität wiederaufleben
ließe. Dies führte jedoch dazu, dass in Rom der reflexartige Vorwurf des Sezessionismus bzw. Irredentismus erhoben wurde.
Auslöser war die „Euregio“-Absicht, ein gemeinsames Verbindungsbüro in Brüssel zu etablieren. Der italienische
Staatspräsident Luigi Scalfaro drohte, Sezessionsabsichten zögen schwerwiegende Konsequenzen nach sich, und
Ministerpräsident Lamberto Dini wies die Staatsanwaltschaft an, der Sache nachzugehen. Doch dafür waren keine Indizien zu
finden, sodass der italienische Verfassungsgerichtshof die Rechtmäßigkeit des Büros anerkennen musste. Eher durch den
Konflikt mit Rom denn durch signifikante politische Erfolge aufgefallen, erlangte das Projekt erst mit der Umbenennung in
„Europaregion Tirol Südtirol Trentino” in einer gemeinsamen Sitzung der Landeshauptleute am 21. Februar 2009 auf Schloss Tirol
wieder ein wenig Auftrieb. Ziel war es, die „Achse Innsbruck-Bozen-Trient“ kulturell, wirtschaftlich und politisch zu stärken
sowie den teilungsbedingten Entfremdungsprozess zu stoppen. Hinsichtlich einer besseren funktionellen Zusammenarbeit in
der „Euregio“ vereinbarten sie, die bis dato als „träge“ geltenden Entscheidungsprozesse, wie sie etwa im Rahmen der
Dreierlandtage gang und gäbe waren, durch effektivere Mechanismen zu ersetzen. Daher entschieden sich die
Landesregierungen am 15. Oktober 2009 zur Einrichtung des sogenannten „Europäischen Verbunds territorialer Zusammenarbeit“
(EVTZ), um die Europaregion mit eigener Rechtspersönlichkeit und damit auch größerer politischer Selbständigkeit auszustatten.
Die Gründung der EVTZ rief zwar neuerlich Einsprüche seitens der italienischen Regierung hervor; doch nach einigen
Konsultationen zog sie ihre Vorbehalte zurück und stimmte zu, sodass der Eröffnung des EVTZ-Büros in Bozen nichts mehr im
Wege stand. Noch immer fehle es der EVTZ an großen „politischen Leuchtturmprojekten“ befand der Südtiroler
Landeshauptmann Arno Kompatscher und ahnte, die EVTZ-Euregio dürfe nicht wieder nur zu einem „Schlagwortprojekt“
verkommen. Daher bleibt abzuwarten, welche Entwicklung sie in Zukunft tatsächlich nimmt, und es muß sich erst noch
herausstellen, ob damit tatsächlich das Wiederzusammenwachsen der seit hundert Jahren getrennten Landesteile begünstigt
werden kann. Skepsis ist angesichts der eingangs in Bezug auf das winterlich bedingte Verkehrschaos geschilderten
Zuständigkeitsprobleme schon im Kleinen angebracht. Und im Großen? Institutionell funktionierende „Europaregionen”, jeweils
ausgestattet mit politischer Selbstverwaltung, Regionalparlament und -regierung, welche tatsächlich die vielen ursächlich
durch die Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts nach dem Ersten Weltkrieg gezogenen Grenzen verschwinden ließen,
wären wohl allein über die Metamorphose der Nationalstaaten zu einer wirklich politischen Union möglich. Deren Parlament
müsste sich aus gewählten Abgeordneten aller Europaregionen konstituieren und aus dessen Mitte hätte die EU-Regierung
hervorzugehen. Derartigen Visionen steht die Entwicklung, welche EUropa in den letzten zwei Jahrzehnten genommen hat,
diametral entgegen. Es dominieren nationalstaatliche Interessen, und es gewinnen auf Loslösung und Eigenstaatlichkeit
bedachte Fliehkräfte – just auch innerhalb der Nationalstaaten (beispielsweise in Spanien, Italien, Belgien, Großbritannien) – an
Attraktivität. Wider den in der Europa-Frage missionarisch agierenden – wenn auch bisweilen historisch unsauber
argumentierenden - österreichischen Schriftsteller Menasse ruft der türkisch-deutsche Literat Zafer Senocak ernüchternd den
„Abschied vom Fetisch eines politisch vereinten Europa” aus und stellt fest, Europas Zukunft könne nur in der wertgebundenen
Zusammenarbeit souveräner Nationalstaaten liegen. Wie diese im Einzelnen funktionieren mag, geht aus den einleitend
zitierten Worten des Südtiroler Schützen-Kommandanten hervor. Wie dem auch sei - unter dem Aspekt der Landeseinheit, eines
Ziels, das nicht aus den Augen verloren werden sollte, reicht die „EUregio Tirol-Südtirol-Trentino“ kaum über die Kontur einer
Schimäre hinaus.
Andreas Hofer Bund e.V.