© Andreas Hofer Bund e.V. 2015
Pariser Vertrag 1946
“Magna Charta” für oder “Verrat” an Südtirol? Von Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhard Olt
Ein für Tiroler vornehmlich südlich des Brenners mit Genugtuung und
Freude, aber auch mit Leid, Schmerz und Verzicht verbundener
Gedenktag steht bevor und wirft seine Schatten voraus. Mit feierlichem
Brimborium begeht man am 5. September den 70. Jahrestag des Gruber-
De Gasperi-Abkommens. Schloß Sigmundskron, die festlich
herausgeputzte Lokalität im Überetsch-Gebiet, auf der die im Gefolge
des österreichischen Außenministers Sebastian Kurz und seines
italienischen Pendants Paolo Gentiloni zusammenkommenden
einschlägigen Vertreter der politischen Klasse aus Wien und Rom sowie
Innsbruck, Bozen und Trient einander in gutnachbarlicher
Beweihräucherung übertreffen werden, könnte symbolträchtiger kaum
sein.
De Gasperis Finte und „Los von Trient
Wo Bergsteigerlegende Reinhold Messner unter tatkräftigem Mittun des vormaligen Südtiroler Landeshauptmanns Luis Durnwalder
einen von insgesamt sechs Standorten seines zugegebenermaßen imposanten „MMM“ (Messner Mountain Museum) einrichtete,
damit die örtliche Firnis enthistorisierte und also ihrer Wirkkraft entkleidete, hatte weiland Silvius Magnago, der legendäre
„Vater des Südtirol-Pakets“, im fernen Jahre 1957 vor 35 000 Kundgebungsteilnehmern das „Los von Trient“ propagiert. Warum
„Los von Trient“? Weil der italienische Ministerpräsident Alcide De Gasperi die Gültigkeit jener zwischen ihm und dem
österreichischen Außenminister Karl Gruber am 5. September 1946 in Paris im Rahmen der Friedenskonferenz unterzeichneten
vertraglichen Autonomie-Regelung, welche eigentlich zum Schutz der Südtiroler bestimmt sein sollte, fintenreich der aus den
Provinzen Bozen-Südtirol und Trient gebildeten Region zugeordnet hatte. In besagter Region Trentino-Alto Adige überwog das
ethnische italienische Bevölkerungselement bei weitem, sodass die – vom „demokratischen Italien“ bis in die 1960er Jahre
ohnedies wie ein Kolonialvolk behandelten Südtiroler österreichischer Volkszugehörigkeit und deutscher sowie ladinischer
Ethnizität und Zunge politisch, gesellschaftlich, wirtschaftlich, sozial und kulturell majorisiert wurden.
Bei aller Wertschätzung für das von der damaligen Lage bestimmte besonnene Handeln des „Realpolitikers“ sei festgehalten:
Magnagos „Los von Trient“ – und eben nicht das „Los von Rom“, was damals mutmaßlich Wille von 90 Prozent der Südtiroler
Bevölkerung und annähernd 100 Prozent des altösterreichisch-deutschen Anteils gewesen sein dürfte – bedeutete faktisch das
Einschlagen eines Weges, den die Südtiroler Volkspartei (SVP) unter seiner und seiner Nachfolger Führung fortan unbeirrt
weiterbeschritt. Faktisch hat sie sich seitdem nämlich sukzessive von einer Festlegung verabschiedet, unter der sie am 8. Mai
1945 gegründet wurde. Im SVP-Parteistatut ist nämlich für die Südtiroler als Ziel die (Ausübung des) Selbstbestimmung(srechts)
fixiert. Im Pariser Vorort Saint-Germain-en-Laye, wo man 1919 Österreich ein Friedensdiktat auferlegte, aufgrund dessen Südtirol
an Italien fiel, war die Selbstbestimmung entgegen dem Vorhaben des amerikanischen Präsidenten Wilson ebenso verweigert
worden wie von den alliierten Siegermächten aufs Neue nach Ende des Zweiten Weltkriegs, wofür das Abkommen vom 5.
September 1946 als eine Art „Ersatzlösung“ galt.
Umstrittenes Abkommen
Das Abkommen und die Folgen, die es hervorrief, ist unter Parteien zwischen Wien, Innsbruck und Bozen je nach politischer
Couleur respektive „regierender“ oder „opponierender“ Stellung wie unter Historikern und deren jeweiligem
„erkenntnisleitenden Interesse“ höchst umstritten. Die auf Sigmundskron Champagnisierenden werden Elogen auf diese
angebliche „Magna Charta für Südtirol“ anstimmen. Eine unlängst der (SVP-nahen) Tageszeitung „Dolomiten“ beiliegende
Broschüre des Titels „70 Jahre Pariser Vertrag“, welche die nicht zur Jubelstimmung passenden, weil konterkarierenden
„ewiggestrigen“ Kapitel des Südtiroler Freiheitskampfes gänzlich ausblendet, stimmte darauf bereits ein. Für andere war und ist
der Vertrag - wie für Bruno Kreisky, der einst als Wiener Außenminister die Südtirol-Frage vor die Vereinten Nationen (UN) trug -
ein „einmaliges Dokument österreichischer Schwäche"; gleichwohl haben sie sich damit arrangiert. Wieder andere jedoch
eracht(et)en neben Inhalt und Folgen des Vertrags vor allem dessen Zustandekommen als „Verrat an den Südtirolern“.
Wie war es dazu gekommen? Laut einem Bericht der „Neuen Zürcher Zeitung“ ließ DeGasperis Büro am 24. August 1945
verlauten, man werde dem Aostatal und der dortigen mehrheitlich ethnischen französischen Bevölkerung „die vollständige
sprachliche Gleichberechtigung“ sowie „eine großzügige, neuartige administrative Dezentralisierung in allen örtlichen
Angelegenheiten gewähren“. Die italienische Regierung beabsichtige zudem, „Maßnahmen für die östlichen und nördlichen
Grenzgebiete nach dem Vorbild der dem Aostatal gewährten Autonomie auszuarbeiten und zu diesem Zweck mit den Vertretern
der Bevölkerung und der örtlichen Interessen Fühlung zu nehmen“.
„Wiederherstellung der Freiheit für Südtirol"
Das dürfte den Vertretern der alliierten Siegermächte im „Rat der Außenminister“ – einer
aus der Konferenz von Potsdam hervorgegangenen Einrichtung – gerade rechtgekommen
sein und bereits als Signal für die Londoner Außenministerkonferenz (11. September bis 2.
Oktober 1945) genügt haben, um Grubers Ersuchen rundheraus abzulehnen. Der Tiroler
Landeshauptmann und Außenamtsstaatssekretär in der provisorischen Regierung unter
Staatskanzler Karl Renner hatte in gleichlautenden Telegrammen an den amerikanischen
Präsidenten Harry S. Truman und dessen Außenminister James F. Byrnes, an den britischen
Außenminister Ernest Bevin, an Charles de Gaulle, Chef der provisorischen Regierung
Frankreichs und dessen Außenminister Georges Bidault sowie an den sowjetischen
Generalissmus Iossif Stalin und dessen Außenminister Wjatscheslaw Molotow um „die
Wiederherstellung der Freiheit für Südtirol" sowie „Vorbereitung einer Volksabstimmung“
zwischen Brenner und Salurner Klause und um „Zulassung einer österreichischen Delegation
zu den Verhandlungen“ ersucht.
In Innsbruck sprachen Gruber und sein kurzzeitiges Regierungsmitglied Eduard Reut-
Nicolussi auf einer Großkundgebung vor 30000 Menschen am 4. September 1945; in der
verabschiedeten Resolution wurde die Rückkehr des südlichen Landesteils zu Tirol und
Österreich gefordert. General Marie-Emil Béthouart, Kommandeur der französischen
Besatzungstruppen, ließ seine Sympathie dafür offen erkennen. Am 28. September
erreichte ihn allerdings ein Exposé des Quai d'Orsay, worin es hieß, wegen „der ungewissen
Zukunft Österreichs angesichts einer dauerhaften sowjetischen Besatzungszone“ sei „eine
Rückgabe Südtirols aus strategischen Gründen sehr gefährlich“, denn damit drohe eine „Ausbreitung der sowjetischen
Einflussnahme bis zur Po-Ebene.
Wien: Selbstbestimmung und Rückgliederung
Derweil legte sich die provisorische österreichische Regierung Renner am 5. September per Kabinettsratsbeschluss auf die
Forderung nach Selbstbestimmung für Südtirol fest. Sie richtete ein Memorandum an die Londoner Außenministerkonferenz, in
welchem sie die „Rückgliederung Südtirols“ forderte. In London, wo es seit 11. September primär um die Behandlung des
Friedenschlusses mit Italien sowie um Friedensverträge mit Rumänien, Bulgarien, Ungarn und Finnland ging, vereitelte der Brite
Bevin den Vorschlag des Amerikaners Byrnes nach einschränkungsfreier Anhörung Wiens zur österreichisch-italienischen Grenze
sowie Entsendung einer Untersuchungskommission. Schon am 14. September legten sich die Außenminister auf die Beibehaltung
der Brennergrenze fest, wobei Byrnes eine Zusatzformel im Hinblick auf territoriale Regelungen einbrachte, in der es hieß: „Die
Grenze mit Österreich wird unverändert bleiben, mit der Ausnahme, jeden Fall zu hören, den Österreich für kleinere
Grenzberichtigungen zu seinen Gunsten vorbringt".
Von alldem wusste man jedoch weder in Wien und Innsbruck noch in Bozen etwas. In Wien überreichte die Regierung Renner am
12. September dem Alliierten Rat ein „Memorandum über die Rückgliederung Südtirols an Österreich", worin sie darum ersuchte,
es möge „eine über die Zugehörigkeit dieses Gebietes endgültig entscheidende, freie Volksabstimmung angeordnet" werden. Auf
zwei Kundgebungen in Anwesenheit Renners sowie führender Vertreter der von den Besatzungsmächten zugelassenen Parteien
(ÖVP, SPÖ, KPÖ) wurden am 3. und am 14. Oktober Resolutionen für die Rückkehr Südtirols verabschiedet; am 5. November
überreichte die Regierung dem Alliierten Rat zur Weiterleitung an die jeweiligen Regierungen ein weiteres Memorandums zur
Südtirol-Frage.
Rom täuscht
Derweil bemühte sich Italien um die Forcierung seiner Interessen und Ziele. Dem auf Täuschung zielenden „Beweis guten
Willens“ unter Hinweis De Gasperis auf das Aostatal diente das am 27. Oktober erlassene Gesetzesdekret 755, mit dem
„deutsche Schulen in Südtirol genehmigt“ wurden. Am 4. November sprach er in Mailand von der „Notwendigkeit der
Brennergrenze für die Entwicklung und Verteidigung Italiens“.
Zur österreichischen Forderung nach einer Volksabstimmung in Südtirol hieß es in einer von italienischen Presseorganen am 20.
November wiedergegebenen Verlautbarung aus Rom: „Es gibt überhaupt keine Südtiroler Frage. Alles, was sich auf Südtirol
bezieht, ist eine inneritalienische Angelegenheit, die Italien in versöhnlichem Geiste lösen will.“ Und in einem am 7. Dezember
in der in Bozen erscheinenden Zeitung „Alto Adige“ veröffentlichten „Offenen Brief“ des Präfekten Bruno De Angelis, eines
vormaligen Faschisten, an die SVP-Führung hieß es, die italienische Regierung sei der Auffassung, dass die Südtirolfrage mittels
Erlass eines Autonomiegesetztes gelöst werden sollte.
Gruber, nach der infolge Nationalratswahl vom 25. November (ÖVP 85, SPÖ 76, KPÖ 4 Sitze) gebildeten ersten regulären
Regierung unter Kanzler Leopold Figl (ÖVP) nunmehr auch formell Außenminister schlug daraufhin vor, die offenen
wirtschaftlichen Fragen bezüglich Südtirol „durch eine österreichisch-italienische Treuhandgesellschaft klären und lösen zu
lassen“.
De Gasperi erklärte indes nach einer Kabinettssitzung am 14. Dezember, es werde eine „Kommission zur Ausarbeitung einer
Verwaltungsautonomie für Südtirol“ gebildet, „die aus Vertretern beider Nationalitäten zusammengesetzt sein“ solle. Zwei
Wochen später ließ er verlauten, die Provinz Alto Adige gehöre zur „geographischen Einheit Italiens“. Und: „Die Grenzen eines
Staates mit 45 Millionen Einwohnern können nicht durch unbedeutende Minderheiten entschieden werden, die noch dazu zum
Großteil Nazi-Anhänger waren und vor und nach dem Kriege Hitler halfen.“ Sozusagen als Kontrapunkt zur österreichischen Note
an den Alliierten Rat richtete er zu Jahresbeginn 1946 an die Botschafter der Alliierten in Rom eine Note, in welcher er am
Verbleib Südtirols bei Italien festhielt, zumal es „unentbehrliches Hinterland für die Industrie der Po-Ebene" sei.
Gruber ließ daraufhin am 21. Januar 1946 dem Alliierten Rat ein Memorandum zukommen, worin er für den Fall der
Rückgliederung Südtirols anbot: Verbleib der Wasserkräfte bei Italien und deren Nutzung durch österreichisch-italienische
Gesellschaften; freie Wahl der Staatsbürgerschaft für die in Südtirol lebenden Italiener bei privilegierten Sonderstatus
hinsichtlich Sprache und Kultur; Unterstellung Südtirols unter UN-Schutz der Vereinten Nationen; Gewährung einer Freihafenzone
für Italien an der Donau. Daraufhin bekundete William B. Mack, Vertreter des britischen Foreign Office in Wien - London hatte
ihn zwei Wochen zuvor bereits wissen lassen, es bestünden keine Einwände, die österreichische Regierung über die
„provisorische Entscheidung" zu informieren, dass Südtirol „mit Ausnahme kleinerer Grenzänderungen“ nicht zu Österreich
zurückgelangen werde - Grubers Memorandum sei „ein großzügiger und staatsmännischer Beitrag zur Lösung des Problems“.
Bevin: Italien wichtiger als Österreich
Wiewohl im britischen Oberhaus Sympathie für eine Rückgliederung Südtirols an Österreich vorherrschte, ließ Außenminister
Bevin im Unterhaus keinen Zweifel daran, dass wegen der Entwicklung hin zum „Eisernen Vorhang“, der sich, wie Winston
Churchill in einer Rede dargelegt hatte, „von der Ostsee bis Triest über Europa gelegt“ habe, Italien für den Westen wichtiger sei
als Österreich. Daher könne es bis auf kleinere Berichtigungen keine Grenzänderungen geben. Weder die an Kanzler Leopold
Figl am 22. April in Innsbruck während einer Großkundgebung übergebenen und später nach Paris weitergereichten 155 000
Unterschriften von Südtirolern für die Wiedervereinigung Tirols noch die Forderung nach Gewährung der Selbstbestimmung, wie
sie auf Kundgebungen – trotz diverser Behinderung durch italienische Stellen – in Innichen, Brixen, Bozen und Meran erhoben
worden waren, konnten die Alliierten dazu bringen, wenigstens eine – selbst auch vom Amerikaner Byrnes ins Spiel gebrachte,
aber von Molotow abgelehnte – Kommission zur Ergründung der Verhältnisse zu entsenden.
Auch Grubers im Auftrag Figls an die Alliierten gerichtete Bitte um Anhörung einer österreichischen Delegation blieb
unbeantwortet. Derweil passte die von Nicolò Carandini, dem Botschafter in London, vorgebrachte Bekundung, wonach Italien
eine „liberale und demokratische Politik betreiben“ und „lokale Autonomien" wie im Falle Aosta installieren werde, eher zu den
Plänen der Siegermächte, vornehmlich der westlichen.
Ablehnung der „Bozen-“ und der „Pustertal-Lösung“
Wiewohl er – ebenso wie die Regierung Figl – offiziell für Selbstbestimmung und Rückgliederung des ganzen südlichen Tiroler
Landesteils eintrat, überreichte Gruber offenbar unter dem Eindruck, der Inhalt könne unter dem Rubrum „kleinere
Grenzberichtigungen“ Wirkung entfalten, am 12. April ein geheimes, namentlich nicht gezeichnetes Memorandum an Mack. Im
Wesentlichen sollte gemäß dem darin enthaltenen Vorschlag Südtirol einschließlich der Stadt Bozen - aber ohne deren während
des Faschismus aus dem Boden gestampfter Industriezone und erheblichen Teilen des Südtiroler Unterlands - zu Österreich
kommen. Doch dies fand ebensowenig Gehör wie seine später – formell in eine Regierungsnote gekleidete – angebotene
„Pustertal-Lösung“. Sie sah dessen Rückgliederung vor, womit die direkte Verbindung Nordtirols mit (dem wegen des
Grenzverlaufs abgetrennten) Osttirol möglich geworden wäre; wiewohl Mack bekundet hatte, Bevin sei bereit, Österreich zu
unterstützen, sofern es Anspruch auf das Pustertal erhebe.
Am 11. Mai hatte Norbert Bischoff, Österreichs Gesandter in Paris, im Auftrag der Bundesregierung eine an die tagende Vier-
Mächte-Außenministerkonferenz gerichtete Note übergeben, in der die Rückgliederung des Pustertals, des oberen Eisacktales
und der Stadt Brixen als „kleinere Grenzberichtigung" mit der Begründung der Wiederherstellung einer direkten
Eisenbahnverbindung zwischen Nord- und Osttirol verlangt wurde. Am 30. April bestätigten Bidault, Byrnes, Bevin und Molotow
jedoch den schon am 14. September 1945 gefassten Beschluss, „keine größeren Grenzveränderungen zwischen Österreich und
Italien vorzunehmen“. Und am 1. Mai bekräftigten sie die damalige Festlegung, wonach Südtirol bei Italien bleibe und das von
der Regierung in Wien sowie in mehreren auf Kundgebungen beschlossenen Resolutionen geforderte Plebiszit abgelehnt werde.
Massive Vorbehalte gegen Grubers Politik
Die Bekanntgabe bewirkte in Tirol einen allgemeinen fünfstündigen Proteststreik sowie Demonstrationen, auch in Bozen, Meran
und Brixen kam es zu Protestkundgebungen. Sämtliche Glocken Tirols läuteten zum Zeichen der Trauer. In Wien demonstrierten
mehr als 100 000 Menschen für die Selbstbestimmung der Südtiroler und die Rückkehr des Landesteils zu Österreich.
Derweil klammerte man sich in Südtirol an die auch von der Veröffentlichung einer Stellungnahme des Kanonikus Michael Gamper
im „Volksboten“ (2. Mai) und in den „Dolomiten“ (3. Mai) genährte Hoffnung, wonach in der Festlegung der
Außenministerkonferenz lediglich eine „Vorentscheidung" zu sehen und „keineswegs das letzte Wort über Südtirol“ gesprochen
sei. Auch die persönliche Vorsprache Grubers bei Bevin - aufgrund erstmaliger Einladung nach Paris und Weiterreise nach London
– änderte daran kein Jota. Ins Leere ging auch sein unterdessen bekanntgewordener und von der gesamten österreichischen
Regierung mittels formellen Verlangens gebilligter Vorstoß in Sachen Pustertal-Lösung – bei Aufrechterhaltung eines
Rechtsvorbehalts auf Südtirol als Ganzes.
Woraufhin in einer Besprechung von Vertretern Nord- und Südtirols am 10. Juni in Innsbruck massive Vorbehalte gegen die Politik
des Außenministers zum Ausdruck kamen und der stellvertretende Landesregierungschef Franz Hüttenberger (SPÖ) „den für
Österreichs Außenpolitik verantwortlichen Männern“ vorwarf, sie hätten „in der Behandlung des Problems Ungeschicklichkeiten
begangen, welche die gerechte Sache Südtirols ungünstig beeinflussen". In der zwischen 15. Juni und 12. Juli zu Paris
fortgesetzten Vier Mächte-Außenministerkonferenz wurde Österreichs Anspruch auf Südtirol neuerdings abgelehnt.
Im Unterhaus Protest der Konservativen gegen Bevin
Im britischen Unterhaus protestierten derweil 150 Abgeordnete (vornehmlich der Konservativen) formell gegen die Entscheidung
der Außenministerkonferenz in Paris über die Belassung Südtirols bei Italien. In der Erklärung hieß es, die Abtrennung Südtirols
von Österreich im Friedensvertrag von Saint Germain sei „die ernsthafteste Verletzung des von Wilson aufgestellten
Grundprinzips der Selbstbestimmung der Völker gewesen“. Labour-Premier Bevin antwortete auf die enthaltene Frage, ob
„Großbritannien den schmutzigen Schacher, den der Berliner Pakt zwischen Hitler und Mussolini über Südtirol dargestellte,
unterschreiben wolle", Österreich sei noch nicht frei, und man wisse nicht einmal, ob Ostösterreich nicht vom Westen ganz
abgeschnitten werde. Die Entscheidung über Südtirol sei im September 1945 in London gefallen, und er habe sich einverstanden
erklärt und trage dafür die Verantwortung.
Gruber kontaktiert De Gasperi
Wenngleich die SVP in einem Telegramm vom 17. Juli an das britische Oberhaus den Anspruch auf Selbstbestimmung erhob und
bat, die Südtiroler dabei zu unterstützen, erklärten ihr Obmann Erich Amonn und ihr Generalsekretär Josef Raffeiner gegenüber
dem Bozner Präfekten Silvio Innocenti zur Mitarbeit in der Autonomiefrage bereit. Beide dementierten allerdings später
Vorhaltungen, wonach sie sich mit dessen – auf Anweisung DeGasperis – ausgearbeitetem (und letztlich zum Tragen
gekommenem) Autonomieprojekt (Südtirol zusammen mit dem Trentino) einverstanden erklärt gehabt hätten, wie es Innocenti
und De Gasperi in der Öffentlichkeit darstellten. Gruber ließ indes De Gasperi über den iatlienischen Botschaftssekretär Roberto
Gaja wissen, er sei zu einem „Gespräch über freundschaftliche Beziehungen und der Zusammenarbeit" bereit, woraufhin De
Gasperi am 20. Juli via Gaja mitteilen ließ, dass er dazu bereit sei, wenn territoriale Fragen nicht zur Diskussion stünden.
Die Pariser Friedenskonferenz
Im Pariser Palais Luxembourg begann am 15. Juli die Friedenskonferenz; sie dauerte bis 15. Oktober 1946. Der Konferenz lagen
die Entwürfe des Rates der Außenminister der Großen Vier respektive der von ihnen beauftragten Stellvertreter zu den
Friedensverträgen mit Italien, Finnland, Bulgarien, Rumänien und Ungarn sowie noch nicht geklärte Fragen vor. Den insgesamt 21
Delegationen wurden vier Südtirol-Memoranden unterbreitet, in denen eine Volksabstimmung über dessen Zukunft verlangt
wurde: von der österreichischen Bundesregierung; ein vom SVP-Obmann Ammon und dem Vorsitzenden der Sozialdemokratischen
Partei Südtirols, Lorenz Unterkircher sowie vier Südtiroler Mitgliedern des letzten gewählten italienischen Parlaments und sieben
Mitgliedern des letzten gewählten Südtiroler Landtags unterzeichnetes; ein drittes von Vertretern der Ladiner; schließlich das
vierte vom Brixner Fürstbischof Johannes Geisler. Die SVP hatte einer – offiziell nicht zugelassenen - Südtiroler Delegation (Friedl
Volgger, Otto von Guggenberg und Hans Schoefl) als Vorgabe aufgetragen: Falls kein Plebiszit durchsetzbar sei, möge man
entweder auf eine „Liechtenstein-Lösung“ oder auf ein „Südtirol unter internationaler Kontrolle“ oder auf eine „Autonomie“
(allerdings nur unter den Bedingungen einer internationalen Garantie und ausschließlich für die Provinz Bozen) hinwirken.
Auftritte De Gasperis und Grubers
De Gasperi trat am 10. August vor die Friedenskonferenz und erklärte, hinsichtlich des „Alto Adige“ werde eine „weitreichende
Autonomie vorbereitet“, und die Vertreter Südtirols hätten einer „Regionalautonomie bereits zugestimmt.“ Nach dem Beschluss
zur Anhörung Österreichs – wogegen die Sowjetunion, Weißrussland, die Ukraine, Polen, Jugoslawien und die Tschechoslowakei
stimmten – reiste Gruber nach Paris und vertrat am 21. August in seiner (zusammen mit Figl ausgearbeiteten) Rede vor der
Vollversammlung der Konferenz den bekannten Standpunkt Wiens. Auch das am 25. August der Konferenz vorgelegte Südtirol-
Memorandum Österreichs führte letztlich nicht zu einer Änderung der Alliierten-Position, Südtirol bei Italien zu belassen.
Es ging nur mehr um eine Autonomie-Lösung
Im weiteren Fortgang der Ereignisse stand infolgedessen nurmehr die Autonomie-Frage im Mittelpunkt aller Überlegungen. Nach
einer Unterredung Grubers mit den Delegierten Belgiens, die ihm nahelegt hatten, sich um eine direkten Einigung mit Italien zu
bemühen, sowie Gesprächen mit Nicolò Carandini (italienischer Botschafter In London und Sonderbeauftragter für Paris) sowie
Frankreichs Außenminister Bidault verlangte Gruber von den Südtiroler Delegierten am 23. August, sie sollten ihm ihre
Autonomie-Vorstellungen unterbreiten. Volgger, von Guggenberg und Schoefl brachten am 26. August ihr Missfallen zum
Ausdruck, dass in dem von Gruber dem Generalsekretariat der Friedenskonferenz überreichten neuen Memorandum der
österreichischen Regierung lediglich „eine Verwaltungsautonomie, wie sie Italien den Aostanern gewährt“, verlangt worden sei.
Damit habe Gruber „vorzeitig alle Karten aufgedeckt", und es werde „offenkundig, wie weit nachzugeben die österreichische
Regierung bereit“ sei. Das Heranziehen der Aostatal-Autonomie als Muster kritisierten sie als „verunglückt und gefährlich“.
Dessen ungeachtet deutete Gruber gegenüber Carandini die Bereitschaft an, Innocentis Vorschläge zur Grundlage für die
Autonomie zu machen; dies allerdings nur unter der Bedingung, dass sie in einigen Punkten modifiziert würden. Doch auf die von
Österreich gewünschte „eindeutige territoriale Abgrenzung des autonomen Gebiets“ ließ sich De Gasperi gar nicht erst ein.
Als Carandini mit dessen unveränderlichen Instruktionen am 1. September nach Paris zurückgekehrt war, kam es zu heftigen
Auseinandersetzungen zwischen Gruber und der Südtiroler Delegation. Diese nannte den Vorschlag Carandinis (und somit De
Gasperis) ungenügend und wies ihn glatt zurück.
Vertrag ohne klare Geltungsfestlegung
Nachdem Gruber die Bereitschaft bekundet hatte, die Frage der Nennung
des territorialen Geltungsbereichs der Autonomie offenzulassen und keine
Formel zu verlangen, die das autonome Gebiet unbedingt auf die Provinz
Bozen beschränkte und Carandini sozusagen absichtsverschleiernd zusagte,
nicht direkt auf die Vereinigung der beiden Provinzen hinzuweisen, war der
Weg für die Unterzeichnung der Vereinbarung zwischen Alcide DeGasperi
und Karl Gruber am 5. September 1946 in der italienischen Gesandtschaft zu
Paris geebnet. Just die von ihm reklamierte und von Gruber zugestandene
Unbestimmtheit der territorialen Geltung nutzte DeGasperi - wider sein
Versprechen, die Südtiroler vor Änderungen zu hören - schamlos zugunsten
der erst noch zu schaffenden Region Trentino-Alto Adige (Autonomiestatut
vom 29. Januar; inkraftgetreten am 14. März 1948) aus. Weshalb das Abkommen in der Folge für fortdauerndes Misstrauen und
absolut gerechtfertigte Auflehnung in Südtirol sorgte.
Erst nach zahlreichen Anschlägen, Kreiskys UN-Vorstoß 1960, welchem in den „Bomben-Jahren“ Leid und Tod, massive
Vergeltungsmaßnahmen und Menschenrechtsverletzungen von Seiten Italiens folgten, kam es nach langwierigen, zähen
Verhandlungen im Dreieck Wien-Bozen-Rom zum Autonomie-Paket von 1969, welches ins Zweite Statut von 1972 mündete. Und
aufgrund römischen Finassierens sollte es schließlich weitere zwanzig Jahre dauern, bis am 11. Juni 1992 mit der österreichisch-
italienischen Streitbeilegungserklärung vor den UN der Südtirol-Konflikt im völkerrechtlichen Sinne für beendet erachtet werden
konnte. Das und die durchaus positive Entwicklung Südtirols – vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet - ändert nichts daran, dass
die größte Ungerechtigkeit gegenüber den Südtirolern seit 1918/19 fortbesteht, solange ihnen nicht Gelegenheit zur Ausübung
des Selbstbestimmungsrechts gegeben ist.
Unter Historikern ist man sich zwar weitgehend einig, dass die Selbstbestimmung 1946 aufgrund der damaligen Lage und den sich
herausbildenden Interessengegensätzen nicht erreichbar war. Es darf aber auch durchaus als Opinio communis gelten, was
Michael Gehler (Hildesheim, früher Innsbruck) aufgrund seiner Forschungsergebnisse gegenüber einer Zeitung einmal so
ausdrückte: Es wäre mehr zu holen gewesen, „Gruber hat sich viel zu schnell auf Kompromisse eingelassen; bei einer besseren
Verhandlungsführung wäre durch die unablässige Forderung nach einer Volksabstimmung eine echte Autonomie im Sinne einer
inneren Selbstbestimmung möglich gewesen.“
Eine „echte Autonomie“ kann die existierende, von der Rom immer wieder Scheibchen
abschnitt, kaum genannt werden. Und wenn die Südtiroler nicht aufpassen, führt der
von der „ewigen Regierungspartei“ SVP auf Wunsch ihres italienischen
Koalitionspartners PD (Partito Democratico) eingesetzte Autonomie-Konvent –
sozusagen als „Erfüllungsgehilfe“ der von der Regierung Renzi (PD) vorangetriebenen,
auf Stärkung des Zentralstaats hinauslaufende Verfassungsreform – hinter die mühsam
erkämpften Errungenschaften des Zweiten Statuts von 1972 zurück. Horribile dictu!
Andreas Hofer Bund e.V.