Andreas Hofer Bund e.V.
© Andreas Hofer Bund e.V. 2015
Herensache Südtirol
Entschleierung einer vorgeblichen „Herzenssache“
Hubert Speckner holt 75 Jahre parlamentarischer Wiener Südtirolpolitik vor den Spiegel
Für Österreich sei Südtirol „kein Politikum, sondern eine
Herzenssache“, und des 1918/19 von Tirol abgetrennten und Italien als
Kriegsbeute zugeschlagenen südlichen Landesteils „Rückkehr nach
Österreich ein Gebet jedes Österreichers“: Mit dieser gefühlig-
patriotischen Festlegung aus Anlaß seiner ersten Regierungserklärung
setzte Leopold Figl, der erste aus der ersten
Nachkriegsnationalratswahl hervorgegangene Bundeskanzler, am 21.
Dezember 1945 sozusagen den förmlichen Anspruchs- und
Betrachtungsmaßstab in der Südtirol-Frage. Figls „Herzenssache“
wurde, ebenso wie die spätere Abwandlung „Herzensangelegenheit“,
zum geflügelten Wort und ist als solches nach wie vor Bestandteil des
Politvokabulars in Österreich(s Parteien), wenngleich es längst seine
rhetorische Kraft und magnetisierende Wirkung eingebüßt hat, da es
leider nurmehr als stereotyp gebrauchte Floskel in standardisierten
Sonntagsreden vorkommt und keine greifbare politische Agenda mehr
dahintersteht.
Wer sich aus wie auch immer geartetem Interesse heraus der
historischen Entwicklung des Bedeutungsverlusts dieser „Herzenssache“
bzw. „Herzensangelegenheit“ anhand von 75 Jahren parlamentarischer
Befassung mit der und politischen Auseinandersetzung über die
Südtirol-Frage im Österreichischen Nationalrat vergewissern möchte,
für den steht nun ein mehr denn erschöpfendes Kompendium zur
Verfügung. Für dessen Akkuratesse und Vollständigkeit zeichnet ein
vielfach einschlägig in Erscheinung getretener Historiker als
Herausgeber verantwortlich. Hubert Speckner hat in den 2022 im Verlag effekt! (Neumarkt a.d. Etsch) erschienenen vier voluminösen
Bänden seiner Publikation „,Herzenssache‘ Südtirol … Südtirol in den Nationalratssitzungen der Zweiten Republik Österreich. 1945-2020“
https://effekt-shop.it/shop/buecher/herzenssache-suedtirol/ auf sage und schreibe 3122 (!) Seiten sämtliche parlamentarischen
Äußerungen zusammengetragen, die zwischen 1945 und 2020 im Parlament zu Wien zur Südtirol-Frage getätigt wurden. Was nunmehr
vorliegt, ist mit Fug und Recht ein Novum, denn in der gesamten (populär)wissenschaftlichen Literatur zum Thema, ganz gleich ob sie
histori(ograph)isch oder politikwissenschaftlich ausgerichtet ist, blieb die parlamentarische Auseinandersetzung darüber
un(ter)belichtet.
In den 2922 Nationalratssitzungen, die während des besagten Zeitraums stattfanden, kam das Thema Südtirol in immerhin 481
Sitzungen zur Sprache. Speckner hat aus dieser Zeit 1320 parlamentarische Äußerungen (Wortmeldungen, Berichten, schriftliche und
mündliche Anfragen, Beantwortung parlamentarischer Anfragen, Initiativ- und Entschließungsanträge sowie Bürgerinitiativen und
Petitionen) zusammengetragen. Jeden Bucheinband ziert das Konterfei jenes Politikers, der in dem darin abgehandelten Zeitraum im
Nationalrat am häufigsten zum Thema Südtirol gesprochen oder sonstwie Aktivität gezeigt hat. Es sind dies der geschichtlichen Abfolge
nach Franz Gschnitzer (ÖVP), Bruno Kreisky (SPÖ), Felix Ermacora (ÖVP) und Werner Neubauer (FPÖ).
Die Zusammenschau aller parlamentarischen Aktivitäten vermittelt ein untrügliches kondensiertes Kontinuum der Abfolge konfliktreicher
Geschehnisse, welche die Höhen und Tiefen des österreichisch-italienischen Verhältnis prägten und stellt eine wahre Fundgrube in
Bezug auf die gesamte österreichische Südtirolpolitik nach 1945 und deren Akteure dar. Im Überblick lassen sich daraus vergröbernde
Befunde ableiten.
Grundsätzlich haben die drei traditionellen Nationalratsparteien (SPÖ, ÖVP, VdU/FPÖ) zufolge der nach dem Zweiten Weltkrieg durch
die am 5. September 1946 in Paris vom österreichischen Außenminister Karl Gruber und dem italienischen Ministerpräsidenten Alcide
DeGasperi getroffenen vertraglichen Übereinkunft hinsichtlich des südlichen Tirol im Großen und Ganzen für lange Zeit in der
Südtirolpolitik weitgehend an einem Strang gezogen. Infolgedessen pflegten sie, wenngleich aufgrund Stärke, Einfluß und ideologischer
Übereinstimmung differierend, unterschiedlich enge/intensive Beziehungen zu der seit 1945 zwischen Brenner und Salurner Klause
dominanten Sammelpartei SVP. Die (nach Eigendefinition) „Sammelpartei der Südtiroler“ vereinte christlich-soziale, katholisch-
konservativ bäuerliche, bürgerlich-liberale und sozialistische / sozialdemokratische Strömungen unter ihrem Dach.
Diese mehr oder weniger konsensuale Politik hatte sogar Bestand, als es während der 1960er Jahre just wegen der Südtirol-Frage in der
FPÖ rumorte und sich Gleichgesinnte aus dem Kreis Norbert Burgers von ihr lösten und in der von Burger gegründeten
Nationaldemokratischen Partei (NDP) zusammenfanden. Erst im Zuge des kommunistischen Systemkollapses und Umbruchs in Mittelost-,
Südost- und Osteuropa sowie der unmittelbar damit verbundenen Wiedervereinigung Deutschlands geriet dieser Konsens aus den Fugen,
zumal da diese Entwicklung mit der innenpolitischen Debatte über die höchst umstrittene Abgabe der österreichisch-italienischen
Streitbeilegungserklärung gegenüber den Vereinten Nationen (UN) in Zusammenhang stand.
Die Streitbeilegungserklärung resultierte quasi als Ultima ratio aus den UN-Resolutionen 1497/XV (31. Oktober 1960) und 1661 (28.
November 1961), worin Österreich und Italien darauf festgelegt worden waren, den Südtirol-Konflikt durch Verhandlungen beizulegen.
Trotz dieser UN-Maßgaben und daraus folgender mannigfacher Begegnungen von Außenministern und Diplomaten beider Seiten hatte sich
Rom nicht wirklich zu Zugeständnissen bezüglich der 1946 vereinbarten Autonomie für die Südtiroler bereitgefunden und stets darauf
beharrt, alle daraus erwachsenen Verpflichtungen erfüllt zu haben. Erst das tatkräftige Aufbegehren uneigennütziger heimatliebender
Aktivisten des Befreiungsausschusses Südtirol (BAS), die spektakuläre Anschläge auf italienische Einrichtungen verübten und damit den
Konflikt international vor aller Augen ersichtlich werden ließen, führte letztlich zu einer gewissen Korrektur der römischen Politik und
zu ernsthaften Verhandlungen, worin auch Repräsentanten Südtirols in Kommissionen eingebunden waren und woraus ein aus
Maßnahmenkatalog (137 Bestimmungen zum Schutze der Südtiroler Bevölkerung) sowie Operationskalender (Vorgaben für die Schritte
zu deren Verwirklichung/Umsetzung) bestehendes Autonomie-„Paket“ und schließlich das Zweite Autonomiestatut für Südtirol
hervorging, welches am 20. Januar 1972 in Kraft trat. Bis die Bestimmungen gemäß Statut umgesetzt waren – wobei sich die rasch
wechselnden römischen Regierungen und die prinzipielle Halsstarrigkeit bzw. Sperrigkeit Italiens immer wieder als Hemmschuh erwiesen
– sollten noch einmal zwei ganze Jahrzehnte verstreichen, sodaß die besagte Streitbeilegungserklärung erst am 11. Juni 1992 abgegeben
werden konnte.
Sowohl Teile des Inhalts, als auch die prozeduralen Schritte auf dem Wege zur Erfüllung des Autonomie-Pakets, damit der
Voraussetzungen zu formellen Beilegung des Streits um Südtirol zwischen Österreich und Italien vor den UN waren höchst umstritten. Die
politischen Auseinandersetzungen über die Möglichkeiten der wirksamen Einklagbarkeit vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH)
hielten weiter an, vor allem aber besteht die bis heute unbeantwortet gebliebene Grundfrage nach Gewährung und Ausübung des nach
dem Ersten wie dem Zweiten Weltkrieg verweigerten Selbstbestimmungsrechts fort.
Während SPÖ, ÖVP und Grüne mit Abgabe der Streitbeilegungserklärung die Südtirol-Frage faktisch für beantwortet erachteten, legten
insbesondere FPÖ-Parlamentarier – wie etwa Siegfried Dillersberger, Martin Graf, Werner Neubauer – immer wieder den Finger in die
Wunde der weder nach dem Ersten, noch nach dem Zweiten Weltkrieg gewährten Ausübung des Selbstbestimmungsrechts und die damit
verbundene Zukunftsperspektive für die Südtiroler. Auch namhafte ÖVP-Granden und SPÖ-Politiker wie beispielsweise der langjährige
Tiroler Landeshauptmann Eduard Wallnöfer (ÖVP) und sein Stellvertreter Herbert Salcher (SPÖ), später Gesundheits- und Finanzminister
unter den SPÖ-Kanzlern Bruno Kreisky und Fred Sinowatz, äußerten sich bisweilen kritisch bis ablehnend. Für die Bundes-ÖVP tat sich
hierin insbesondere der renommierte Staats-, Verfassungs- und Völkerrechtler Felix Ermacora, Mitglied der Europäischen wie der UN-
Menschenrechtskommission, zeitweise auch deren Präsident und nicht zuletzt Autor bedeutender Publikationen zum Südtirol-Konflikt,
hervor.
Zieht man nun die Sonntagsreden-Floskel „Herzensangelegenheit Südtirol“ heran und legt sie sozusagen als Folie über das
Selbstbestimmungsrecht der Südtiroler, so führt das gleichnamige vierbändige Opus magnum des Hubert Speckner untrüglich vor Augen,
wie sich die politischen Akzente zuungunsten des legitimen Verlangens nach dessen Gewährung und Ausübung verschoben haben. Der
FPÖ-Nationalratsabgeordnete und Südtirol-Sprecher Werner Neubauer konfrontierte den in der Plenarsitzung des Nationalrats am 21.
November 2014 anwesenden damaligen Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) mit der Frage, wie die Regierung die Rolle Österreichs als
Schutzmacht gegenüber Südtirol definiere. Denn der vom Außenministerium vorgelegte „Außen- und Europapolitische Bericht 2013“
halte auf Seite 74 fest, „dass für Österreich kein Zweifel bestehe, dass die Südtirol-Autonomie völkerrechtlich auch auf dem
Selbstbestimmungsrecht beruht, das als fortbestehendes Recht von Südtirol in Form weitgehender Autonomie ausgeübt werde“.
Diese Interpretation habe den Südtiroler Heimatbund (SHB) veranlaßt, den renommierten Innsbrucker Völkerrechtler Peter Pernthaler
mit einer „gutachterlichen Klärung zu dieser heiklen Interpretation der Bundesregierung“ zu beauftragen. Im Gutachten, so Neubauer,
werde „klar zum Ausdruck gebracht, dass das Recht auf Selbstbestimmung nicht nur den Staatsnationen, sondern ,jedem Volk und jeder
Volksgruppe‘ zukommt und dass weder das ,innere‘ noch das ,äußere Selbstbestimmungsrecht‘ Südtirols durch die Autonomie
aufgehoben oder verbraucht worden“ sei. Der Südtiroler Landtag habe sich in einem Beschluß vom 9. Oktober 2014 zu den UN-
Menschenrechtspakten bekannt und das in Artikel 1 verankerte Selbstbestimmungsrecht der Völker auch für Südtirol bekräftigt. Dieser
Südtiroler Landtagsbeschluß stehe ganz offensichtlich „im Gegensatz zur Interpretation von Autonomie und Selbstbestimmungsrecht der
österreichischen Bundesregierung“, stellte Neubauer fest und brachte zusammen mit Abgeordnetenkollegen seiner Partei einen Antrag
„zur Klärung in dieser für die Südtiroler so wesentlichen Frage“ ein.
Wie anhand von Speckners Publikation beim weiteren Verfolg der Angelegenheit zu ersehen ist, hat sich an der damaligen
Interpretation, wie sie im Bericht des Außenministeriums von 2013 niedergelegt war, ebensowenig geändert wie an der Haltung des
(nachmaligen und seit 1921 vormaligen Kanzlers) Sebastian Kurz und dessen Partei ÖVP, die (derzeit noch) in Regierungskoalition mit den
Grünen verbunden ist, deren Empfindungen für Südtirol ohnedies keine „Herzenssache“ sein mögen.
REINHARD OLT
Bibliographische Angaben: Speckner, Hubert (Hrsg.), „Herzenssache“ Südtirol .... Südtirol in den Nationalratssitzungen der Zweiten Republik Österreich
1945 bis 2020, Verlag Gra&Wis, Wien / Effekt! Buch, Neumarkt a.d. Etsch/Südtirol 2022; Bd. 1: 1945 bis 1966; Bd, 2: 1966 bis 1979; Bd.3: 1979 bis 1996;
Bd. 4: 1996 bis 2020; insg. 3120 Seiten; zus. 80 €