© Andreas Hofer Bund e.V. 2015
Gastbeitrag von Prof. Dr.Dr. Reinhard Olt
Menetekel “Los von Rom”
In Südtirol leuchten Flammenschriften auf und die Stimmung schlägt um
Im Lande an Eisack und Etsch gärt es. Feuerschriften leuchten auf. „Jetzt
reicht‘s“ verkünden brennende Fackel-Schriftzüge zwischen Pustertal,
Burggrafenamt und Vinschgau. „Freistaat“ heißt ein Verlangen auf
Spruchbändern. „Kurz, hol uns heim“ fordern Aufschriften auf an Brücken
befestigten Tüchern als Wunsch an den österreichischen Bundeskanzler. Und
in Weinbergen, an Felswänden, Heustadeln und Gartenzäunen prangt auf
Spruchtafeln, was des Nachts Flammenschriften an Bergrücken bekunden:
„Los von Rom“.
Die Folgen der Corona-Krise zeitigen im südlichen Teil Tirols, von Italien
1918 annektiert und ihm im Vertrag von St. Germain 1919 als Belohnung für
seinen Seitenwechsel 1915 zugesprochen, einen markanten
Stimmungsumschwung in der Bevölkerung. Der öffentlich vernehmliche
Unmut gegen das Dasein im fremdnationalen Staat, und der Rückgriff auf
das „Los von Rom“, einer Losung, welche die 1950er Jahren maßgeblich
beherrschte, in den 1960er und 1970er Jahren aber infolge der Autonomie-
und „Paket“-Politik, in welcher das „Los von Trient“ dominierte, eher
schwand, und allenfalls noch von austro-patriotischen, in ganz geringem
Maße auch von deutschnationalen Kräften als Ziel hochgehalten wurde, hat
in den „Corona-Wochen“ durch Maßnahmen, wie sie dem typischen
römischen Zentralismus immer wieder eigen sind, einen enormen Auftrieb
erhalten.
Unübersehbar war und ist, dass selbst die Südtiroler Volkspartei (SVP), seit
1945 dominante und mehr oder weniger unangefochtene politische Kraft in
der Autonomen Provinz Bozen-Südtirol, von diesem demoskopisch greifbaren
und allerorten zu vernehmenden Umschwung erfasst zu sein scheint. Eine
SVP, deren (seit Abgang der „Alten Garde“) janusköpfige Führung – hie Parteiobmann Philipp Achammer, da Landeshauptmann
Arno Kompatscher – seit Amtsantritt 2014 stets mehr Italophilie zeigte denn von historisch gebotener Österreich-Empathie
berührt ist. Die Auswirkungen der Corona-Krise, insbesondere das notorisch zu nennende zentralstaatliche Gebaren Roms, das
der – von der SVP bisweilen verabsolutierten - Autonomie Hohn spricht und die Südtiroler „Selbstverwaltung“ ad absurdum
führt(e) - setzten quasi über Nacht eine Kurswende in Gang. So beschloss die SVP-Parteiführung, als sie gewahrte, dass sich der
Stimmungsumschwung in Wirtschaft und Gesellschaft Südtirols letztlich auch zu ihren machtpolitischen Ungunsten auswirken
würde, eine Kehrtwende. Sie bekundete, die von ihr geführte Landesregierung werde nicht einfach mehr die als abschnürend
empfundenen Dekrete von Ministerpräsident Conte in vom Landeshauptmann quasi übersetzte Anordnungen kleiden, sondern
durch ein eigenes – in autonomer Zuständigkeit aufgrund primärer Zuständigkeit vom Landtag zu verabschiedendes –
Landesgesetz ersetzen, welches den Bedürfnissen der Bevölkerung zwischen Brenner und Salurner Klause Rechnung trage.
„Für uns ist es nicht akzeptabel, das unsere Autonomie weiter eingeschränkt wird", hatte Kompatscher nach einer
Videokonferenz des Regionenministers Francesco Boccia mit den Regierungschefs der Regionen und autonomen Provinzen sowie
mit Zivilschutz-Chef Angelo Borrelli und dem außerordentlichen Covid-19-Notstands-Kommissar Domenico Arcuri dargelegt.
Boccia hatte bekräftigt, dass Sonderwege für Gebietskörperschaften erst vom 18. Mai an zulässig seien. Daher, so Kompatscher,
werde Südtirol nicht nur den „schwierigen gesetzgeberischen Weg gehen, um Schritt für Schritt das wirtschaftliche Leben wieder
in Gang zu bringen", sondern gemäß dem einmütigen Beschluss des SVP-Führungsgremiums auch die römischen Parlamentarier
der Partei veranlassen, die (ohnehin labile) Regierung Contes – nach Hinauswurf Salvinis und der Lega von dem im linken
Parteienspektrum angesiedelten Partito Democratico (PD) und der Movimento 5 Stelle (M5S; „Bewegung 5 Sterne“) sowie einer
PD-Abspaltung unter dem früheren Ministerpräsidenten Renzi mehr schlecht als recht getragen – nicht länger zu unterstützen.
Der gesetzgeberische Akt Südtirols wird letztlich zwangsläufig zu einem Konflikt führen, der nicht allein bis zum römischen
Verfassungsgerichtshof reichen würde, wenn Rom auf seiner trotz aller schönfärberischen Lobhudeleien, die zwischen Rom und
Bozen, aber auch zwischen Wien und Rom ob der „weltbesten Autonomie“ und der „friedlichen gutnachbarschaftlichen Lösung
des seit Ende der Teilung Tirols 1919/20 bestehenden Südtirolkonflikts“ durch die Streitbeilegungserklärung gegenüber den
Vereinten Nationen 1992 fortbestehende „Ausrichtungs- und Koordinierungsbefugnis“ (AKB) seiner Zentralgewalt besteht und den
Landtagsbeschluss für null und nichtig erklärt. Was nach aller historisch-politischen Erfahrung geschehen dürfte.
Doch unabhängig davon, ob Rom dann eine Art Zwangsverwaltung über Südtirol verhängt – denn selbst bis zu einer
„Eilentscheidung“ des römischen Verfassungsgerichtshofs, die erfahrungsgemäß kaum zugunsten Südtirols ausfallen dürfte,
würde wohl eine erhebliche Zeitspanne verstreichen – oder nicht, könnten alle damit verbundenen Akte wohl kaum ohne
erhebliche Spannungen realisiert werden. Eigentlich sieht ja das in vielen damaligen Verhandlungen vereinbarte und 1969
gutgeheißene „Südtirol-Paket“ und das darauf fußende Zweite Autonomiestatut von 1972 rechtsverbindlich vor, dass alle von Rom
hinsichtlich Südtirols zu treffenden Maßnahmen stets nur im Einvernehmen mit den dortigen Gremien in Kraft gesetzt werden
können. Notfalls steht es Bozen zu, Wien sozusagen als „Schutzmacht“ anzurufen; lediglich der Gang vor den Internationalen
Gerichtshof (IGH) ist im Zuge der damaliger Verhandlungen nicht als Vertragsbestandteil fixiert worden, was sich, wenngleich in
Wien und Bozen von manchen seinerzeit mahnend verlangt, als kaum mehr gutzumachendes Hemmnis für die Südtiroler Sache
insgesamt erweist.
Die SVP – in der Anfang 2019 gebildeten Landesregierung auf die Südtiroler Provinzorganisation der starken Lega angewiesen –
hat dabei nicht allein ihren Koalitionspartner an der Seite; die Lega ist seit dem „Hinauswurf“ ihres demoskopisch
erfolgsverwöhnten römischen Vormanns Salvini mit der römischen Regierung ohnedies auf striktem Konfliktkurs. Auch auf die
deutschtiroler Oppositionskräfte im Landtag, Freiheitliche Partei (FPS) und Süd-Tiroler Freiheit (STF), kann sie in dieser Sache
zählen, wenngleich beiden die im Landesgesetz fixierten Erleichterungen nicht in allen Punkten zusagen oder sie für zu wenig
weitreichend erachten; Hauptsache man setzt Zeichen für ein gemeinsames Aufbäumen gegen Rom und dessen scheibchenweiser
Aushöhlung der autonomen Zuständigkeiten Südtirols. Diese sind längst weit von der seit 1992 von der SVP erstrebten
„dynamischen Autonomie“ entfernt , ganz zu schweigen von der von ihr einst als hehres Ziel proklamierten „Vollautonomie“, von
der in letzter Zeit kaum noch die Rede gewesen ist.
Dass die SVP sozusagen „in letzter Minute“ die (nicht allein in Feuerschriften aufflammenden und auf Transparenten
ersichtlichen) „Zeichen der Zeit“ erkannte – und allem Anschein nach damit zudem einen bisweilen an die Öffentlichkeit
drängenden Rivalitätskonflikt Achammer – Kompatscher einzuhegen trachtete – ist unverkennbar auf auch vernehmliches
innerparteiliches Rumoren zurückzuführen. Die (laut)stärkste Stimme in dieser Situation war/ist die der Wirtschaft, die in der
von Interessenbünden geprägten SVP – Wirtschaft, Bauern, Arbeitnehmern, als den gewichtigsten – die Melodie vorgab, verstärkt
durch die Tageszeitung „Dolomiten“, die sich allzugerne als SVP-„Wegweiser“ geriert, wenn nicht bisweilen gar als deren Quasi-
Parteiorgan fungiert. Markant auch der Mahnruf Christoph Mastens. Der langjährige SVP-Wirtschaftsfunktionär, seit 40 Jahren
Parteimitglied, bedient sich seines Internet-Organs VOX-News Südtirol, um der jetzigen Parteiführung und insbesondere dem
Landeshauptmann sowie den SVP-Landesräten (Ministern) in griffigen Anklagen nicht nur fehlendes Führungsmanagement ,
Misswirtschaft, Versagen vorzuhalten, sondern auch „gewissenlosen Verrat an der Südtirol- Autonomie und am Südtiroler Volk zu
unterstellen - gipfelnd in zündenden VOX-Losungen wie „Jetzt Vollautonomie oder Freistaat".
Dass solche Stimmen nicht nur in austro-patriotischen Verbänden wie dem Südtiroler Heimatbund (SHB), der Vereinigung
ehemaliger Freiheitskämpfer der 1960er bis 1980er Jahre, und des Südtiroler Schützenbundes (SSB) Resonanz finden und
verstarken - SSB- Kompanien waren maßgeblich an der Organisation der weithin ersichtlichen und Rom, wo natürlich reflexartig
von Separatismus-Bestrebungen die Rede war, erzürnenden Parolen und Leuchtfeuern beteiligt - sondern in „Los von Rom“-
Stimmung münden, liegt auf der Hand. Ebenso lässt gleichlautende Flammenschriften bzw. der aus weithin im Lande lodernden
Fackeln konfigurierte Tiroler Adler „Gänsehaut“ bei vielen Leuten entstehen - just eingedenk signifikanter Parallelität zum
Tiroler Freiheitskampf des Andreas Hofer wider französische und bayerische Fremdherrschaft bis hin zu den 1960er und 1970er
Jahren, da sich in Gestalt der Freiheitskämpfer des BAS (Befreiungsausschuss Südtirol) der „Tiroler Adler gegen den italienischen
Staat" erhob.
Es sind daher nicht mehr nur, wie seither eher die Oppositionsanhänger, wenige Südtiroler, die vom römischen Zentralismus, ja
von der nicht selten unter dem Gebot des „friedlichen Miteinanders“ erzwungenen Unterwerfung unter die Lupa Romana genug
haben. Mehr und mehr Bewohner des Landes zwischen Dolomiten und Reschen halten die bisher praktizierte Form der Südtirol-
Autonomie für gescheitert, sehen im politkommunikativen Gesäusele von der die Teilung Tirols überwindenden „Zukunft durch
EUropäisierung“, praktiziert in einem mehr oder weniger papierenen Gebilde namens „Europaregion Tirol“, nurmehr
Augenauswischerei. Der latente Krisenzustand der EU, wie er besonders während der „Coronitis“ dadurch augenfällig wurde,
dass der Rückfall in nationalstaatliches Gebaren als Überlebensnotwendigkeit erachtet und vor aller Augen sichtbar wurde,
verstärkte dies Empfinden. Der Gedanke, sich nicht nur „stärker von Rom zu lösen“, sondern sich nach nunmehr 100 Jahren der
Zwangseinverleibung, zweimal verweigertem Selbstbestimmungsrecht und idenitätszerstörendem Assimilationsdruck tatsächlich
in aller Form und Konsequenz von Italien zu verabschieden, für das namhafte Gesellschaftswissenschaftler ohnedies
prognostizieren, seine Auflösung sei kaum mehr aufzuhalten (und für die EU eine „Zeitbombe“;
https://zeitung.faz.net/faz/geisteswissenschaften/2020-05-06/die-zeitbombe-ist-der-zerfall-italiens/456075.html ) bricht sich
Bahn. Bei Protestfeuern, lodernden Tiroler-Adler-Silhouetten und Spruchbändern mit dem schneidenden Verlangen „Kurz, hol
uns heim“ wird es wohl nicht bleiben.
Andreas Hofer Bund e.V.